Im Angesicht des Verbrechens: Ein Stern geht auf

Das Mammutprojekt „Im Angesicht des Verbrechens“ (Dominik Graf, 2010) ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Mit Typhoon ging während der Dreharbeiten für die zehnteilige Serie eine Produktionsfirma pleite, koordiniert werden mussten – neben den Hauptrollen – weit über 100 Sprecherrollen und am Ende musste alles auf 500 Minuten Erzählzeit gekürzt werden.

Im Zentrum dieser grandios inszenierten und geschriebenen Gangsterserie steht für mich – neben den eindeutigen Hauptfiguren Marek Gorsky (Max Riemelt) und Sven Lottner (Ronald Zehrfeld) – eine ganz andere Person, eine, die sich erst im Laufe der Geschichte nach und nach in den Mittelpunkt schieben und am Ende die Fäden in der Hand halten wird: Stella (Marie Bäumer), die Schwester von Marek, einem Polizisten, und zugleich Ehefrau des Mafiabosses Mischa (Mišel Matičević). Im Gangsterfilm ist die Familie  – sowohl die eigene Familie als auch die der Mafiakumpane – eines der zentralen Genremerkmale. Stella allerdings steht zwischen den beiden Antagonisten Marek und Mischa – und muss sich entscheiden: Zu welcher Familie fühlt sie sich  zugehörig? Dieser Entscheidungsprozess, der sich über die ganze Serie hinziehen wird, ist die Geschichte einer Wandlung und Emanzipation gleichermaßen. Dieser Wandel – und zugleich Stellas Hin- und Hergerissenheit zwischen ihrem Bruder und der Welt ihres Mannes – manifestiert sich in diesem Bild, das eine familiäre Situation abbildet: Stella umarmt ihren Bruder Marek.

Im Angesicht des Verbrechens/MFA+ FilmDistribution e.K. (eigener Screenshot)

Doch es zeigt Stella auch in ihrem Anwesen, das ihrem Mann Mischa gehört. Gekleidet – eher: verkleidet (für den Moment) – ist sie in dem Kleid, dass sie für ihre Rolle als Chefin des „Odessa“ übergeworfen hat. Wo gehört sie hin? Als Ehefrau in das Haus ihres russischen Mannes, dem Gangsterboss? Als Chefin in das „Odessa“, das ebenfalls ihrem Mann gehört? Oder zu ihrer leiblichen jüdischen Familie, die ihren Ehemann nie für gut geheißen hat? Diese verschiedenen Familienschichten, die in diesem Bild quasi neben- und übereinanderliegen, zeigen die Verlorenheit Stellas, die sich noch für eine Familie bzw. Familienkonstellation entscheiden muss.

Dazu sagt sie den bemerkenswerten Satz „Schau Dir mein Reich an, das mir nicht gehört“: Sie ist eine Frau, die sich regelmäßig in die Chefin des „Odessa“ verwandelt, dort jedoch als solche keine Rolle spielt. Noch – der Verwandlungsprozess wird zum Ende der Serie abgeschlossen sein. Die Emanzipation Stellas ist somit auch eine der Frau im Gangsterfilm, die ihre traditionelle Rolle als Mutter oder trophy wife nicht länger erfüllen möchte.

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