Rachel Sophia Wolpert

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Y tu mamá también: Eine kluge Reflexion der Geschichte Mexikos

Das junge mexikanische Kino und seine Protagonisten zählen für mich zu den derzeit spannendsten Filmbewegungen. Aus Mexiko stammen zahlreiche talentierte Filmemacher, die sich im Spannungsfeld von – im wahrsten Sinne des Wortes – selbst-bewussten, einheimischen Film- und Kinoproduktionen und ausländischen Produktionen, sowohl Hollywood-Blockbustern als auch europäischem Autorenfilm, bewegen.

Mexicanidad – was heißt es, Mexikaner zu sein? In Mainstream-Hollywood-Filmen aus dem in vielerlei übermächtigen Nachbarland USA sind mexikanische Charaktere, wenn überhaupt, oftmals lediglich in stereotypen Nebenrollen vertreten und Angehörige der dienenden Klasse: Nannys, Gärtner, Haushaltshelfer. Oder sie zählen zum scum, sind also Gang-Mitglieder oder Prostituierte.

Ein mexikanischer Film, der Antworten auf die Ausgangsfrage sucht, ist „Y tu mamá también“ (Alfonso Cuarón, 2001). Auf den ersten Blick ist dieser Film eine Mischung aus Roadmovie und Teenager-Komödie, zwei uramerikanischen Genres. Insbesondere letzteres hat dem Film den unglücklichen Beinamen „Mexican Pie“ eingebracht, Mexikos Antwort auf „American Pie“. Doch dieser Vergleich ist meiner Meinung nach lediglich ein Marketinginstrument und wird diesem vielschichtigen Film in keiner Weise gerecht.

Eine Besonderheit des Filmes sind die immer wieder eingestreuten und in sachlichem Tonfall gehaltenen Off-Kommentare, ein Stilmittel, das Regisseur Alfonso Cuarón von Jean-Luc Godards „Masculin Féminin: 15 faits précis“ (1966) übernommen hat. Diese Kommentare sind als offene Kontrapunkte zum restlichen Geschehen gesetzt, schaffen so eine reportagenhafte Distanz und reißen das Publikum aus seiner Identifikationsrolle mit den Protagonisten.

Ich möchte mich hier auf ein Bild und einen Kommentar relativ zu Beginn des Films konzentrieren:

Y tu mamá también/Twentieth Century Fox Home Entertainment, Inc. (eigener Screenshot)

Der Kommentar thematisiert in Verbindung mit diesem filmischen Bild das komplizierte Verhältnis von mexikanischer Oberschicht (die zumeist der Oligarchie zugerechnet werden kann) und der Unterschicht des Landes (zu der oftmals auch die indigene Bevölkerung zählt). Das Bild ist äußerst aufschlussreich und deutet das „Nicht-Wissen-Wollen“ der Oberschicht um die indigene Vergangenheit des Landes an. Im luxuriösen Anwesen der Iturbides – Angehörige der Oberschicht – informiert der Kommentar, dass Tenoch eigentlich Hernán heißen sollte, also so wie der spanische Konquistador, der die Azteken besiegte. Doch sein Vater habe in einem Anflug von Nationalismus beschlossen, seinen Sohn Tenoch zu nennen (Tenochtitlan war die Hauptstadt der Azteken). Dieses Nebeneinander von indigener Geschichte und dem komfortablen Sich-Einrichten in ein Dasein, das vor dieser blutigen Vergangenheit die Augen verschließt, zeigt die nun folgende Kamerafahrt. Denn noch während dieses Kommentars entfernt sich die Kamera von den Protagonisten um Tenoch und schwenkt auf eine Reihe präkolumbianischer Figuren, Insignien des mexikanischen Nationalerbes, die in diesem Haus jedoch rein auf ihre Oberfläche als teure Ausstellungsstücke reduziert werden. Diese Kunstobjekte werden so auf ihre Repräsentierbarkeit reduziert – auch in Mexiko ein Privileg und eine Gepflogenheit der Elite.

Was das Bild ebenfalls offenbart: Tenochs Familie ist so reich, dass sich der Sohn dem genüsslichen Nichtstun und dem Konsum von (teuren) Drogen hingeben kann. Natürlich hat auch diese Familie Hausangestellte, darunter ein (indigenes) Kindermädchen, das Tenoch immer viel Liebe entgegengebracht hat – er nannte sie sogar bis zu seinem vierten Lebensjahr „Mamá“. Nun, als fast erwachsener Mann, behandelt auch er sie wie eine Untergebene.­­ Die kindlich-unschuldige Sicht auf die Welt und das Noch-Nicht-Wissen um soziale Unterschiede ist Tenoch, zumindest zu Beginn des Films, verloren gegangen.