Rachel Sophia Wolpert

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The Ice Storm: Das Brodeln unter der erstarrten Oberfläche

Es ist das Jahr 1973 und in der amerikanischen Kleinstadt New Canaan kochen unter der kühlen Oberfläche die Gefühle. Ang Lee hat eine erstarrte Wohlstandswelt in einem New Yorker Vorort inszeniert, die dessen Bewohner nicht genießen können. Denn sie sind Gefangene der gesellschaftlichen Konventionen, sowohl alter als auch neuer, und sie suchen den individualistisch geprägten Ausbruch, der in einer Katastrophe enden wird.

Diese Kälte und der Ausbruch aus ihr ist bereits im Titel des Films „The Ice Storm“ (Ang Lee, 1997) angelegt. Das Eis ist das Symbol für die erstarrten Gefühle und durchzieht in vielfältigen Ausprägungen den ganzen Film; der Sturm wiederum steht für den Wirbel und den Aufruhr, das Brodeln unter der Oberfläche. Ang Lee hat den Einbruch der Katastrophe in diese erstarrte Welt schon von Beginn des Films an in symbolischen Bildern angelegt, wie in diesem Bild des Eises, das für einen Drink zertrümmert wird:

The Ice Storm/Kinowelt Home Entertainment (eigener Screenshot)

Der Eisbehälter symbolisiert die Konventionen und die Häuser, in denen sich ihre Bewohner wie Gefangene fühlen und, jeweils auf ihre Weise, den Ausbruch suchen. So wie später der Tod Mikey Carvers (Elijah Wood) gewaltsam in den erstarrten, als begrenzt wahrgenommenen Alltag der Carvers und Hoods einbrechen wird, so bricht auch in dieser Szene gewaltsam ein Mechanismus in das Eis ein. Die kühle und glatte Oberfläche bekommt erste, aber deutliche Risse. Der (Eis)Sturm zieht herauf.

Kälte prägt auch die luxuriösen Anwesen der Protagonisten, die zwar über alle modernen Annehmlichkeiten der 1970er Jahre verfügen, jedoch in kühlen Blautönen gehalten sind. Kinder, so hat es den Anschein, hat man eher deshalb, weil es dazu gehört, so, wie man eben verheiratet ist und es auch dann bleibt, wenn die Liebe vergangen ist. Stattdessen werden kleine Fluchten gesucht, um wieder so etwas wie Leben zu spüren: Ben Hood (Kevin Kline) schläft mit der Nachbarin Janey Carver (Sigourney Weaver), seine Frau Elena (Joan Allen) wird beim Stehlen von Lippenstiften erwischt und bei einer Schlüsselparty wird, mehr oder weniger einvernehmlich, der Partnertausch geprobt. Die Kinder werden derweil sich selbst überlassen und suchen auf ihre eigene Weise den Ausbruch aus einer Gesellschaft, die sie im Kleinen wie im Großen (die Watergate-Affäre ist in vollem Gange) als verlogen empfinden.

Und: immer wieder Eis. Eiswürfel werden in Drinks gekippt, tiefgefrorene Truthähne schlittern über die Küchenböden und selbst das Wasserbett der Carvers soll idealerweise keinen Aufruhr machen, wenn sich auf ihm jemand niederlässt. Kälte durchzieht in allen Facetten das Leben der Protagonisten. Am Ende des Films, der Eissturm ist vorüber, taut es. Ein Ende der Eiszeit? Ang Lee lässt dies offen. Doch die Sonne scheint.