Rachel Sophia Wolpert

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Aparajito: Der Weg eines Jungen vom Land ins Leben

Die Apu-Trilogie vom indischen Regisseur Satyajit Ray, deren zweiter Teil „Aparajito“ (1956) darstellt, habe ich zum ersten Mal während meines Studiums gesehen. Die poetischen Bilder der Filme und die einfühlsam erzählte Geschichte von Regisseur Ray gingen mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Apu ist ein kleiner bengalischer Junge, der in ärmlichen, aber sehr liebevollen Verhältnissen mit seiner Familie auf dem Land aufwächst.

Es sind die 1950er Jahre und für Apu scheint es zunächst undenkbar, dass er seine kleine Welt – den Hof seiner Eltern und die ihn umgebenden Wälder und Flüsse – jemals verlassen wird. Zusammen mit seiner Schwester streunt das Kind durch die Natur und scheint zufrieden, bis sie eines Tages auf einem offenen Feld einen am Horizont vorbeifahrenden Zug erblicken. Zum ersten Mal wird für Apu klar, dass es da draußen noch viel mehr gibt und die Welt viel größer ist, als bislang gedacht.

Den Zauber, der von dem Neuen, Unbekannten ausgeht, den allmählich einsetzenden Lösungsprozess von der Familie und zugleich die Liebe der Eltern – ganz besonders die der Mutter, die ihr Kind so lange wie möglich bei sich behalten möchte – hat Ray in diesem Bild eingefangen:

Satyajit Ray The Apu Trilogy/Artificial Eye (eigener Screenshot)

Noch befindet sich Apu im Inneren des elterlichen Hofes, er lugt aus der offenen Hoftür hin zu dem Zug, der – zwar noch ganz in der Ferne, aber doch deutlich erkennbar – den Abnabelungsprozess des Jungen von seinen Eltern symbolisiert. Es ist eine wunderbare Einstellung, die Ray hier gewählt hat, denn er lässt in dieser die Zeitebenen im Erwachsenwerden eines Menschen in einem Bild verschmelzen. Der von Mauern umgebende Hof als schützender Schoß der Familie, in der Apu geliebtes Kind sein darf. Die offene Hoftür, die andeutet, dass er diesen Hort irgendwann einmal verlassen wird – der Junge schaut bereits hinaus, auch wenn er den ersten Schritt noch nicht getan hat. Das weite Feld zwischen Hof und Bahnschienen, das andeutet, dass dies erst der Beginn des langsamen Erwachsenwerdens ist. Und schließlich der am Horizont vorbeifahrende Zug, hier im Bild noch unscharf, aber dennoch klar erkennbar. Mit ihm wird Apu später tatsächlich in sein eigenes Leben fernab der Eltern aufbrechen.